Theatertreffen der Jugend

Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin?!

Das Theatertreffen der Jugend – Ein Erfahrungsbericht

Von Axel Mertens  

Wenn ich an das Theatertreffen der Jugend in Berlin (kurz: ttj) denke, dann schlagen die vielbeschworenen zwei Herzen in meiner Brust.

Das Herz des Theatermenschen rast vor Begeisterung: die große Bühne, die Aufführungsbedingungen, die keine Wünsche offen lassen, das hoch engagierte, absolut professionelle und gleichzeitig stets hilfsbereite Team der Haus-Bühnentechniker*innen, die sehr gastfreundliche Festivalleitung und nicht zuletzt das breit gefächerte Workshop-Angebot für die Jugendlichen wie auch für die Spielleitungen, von sehr renommierten Theater-Schaffenden geleitet und voll von wertvollen Impulsen für die eigene Praxis.

Das ttj – was für ein Festival! Da treffen Jugendliche aus ganz Deutschland aufeinander, Schultheatergruppen auf Jugendclubs der Stadttheater, jüngere Jugendliche auf junge Erwachsene, alte ttj-Hasen auf ‚Newcomer‘ – alle mit dem Bewusstsein, es geschafft zu haben, zu dem wohl bedeutendsten Festival für Theater mit Jugendlichen im deutschsprachigen Raum eingeladen worden zu sein. Und damit nicht genug! Im Gegensatz zu vielen anderen (Schul-)Theaterfestivals ist dem ttj auch die große Öffentlichkeit gewiss. Und so besteht die Zuschauerschaft nicht nur aus den eingeladenen Teilnehmer*innen. „Auf dem Platz“ (eine der Lieblingsfloskeln beim ttj) tummelt sich darüber hinaus auch viel Publikum von außen: Theaterinteressierte, Blogger, Feuilletonisten, Talentscouts, der ein oder andere Paradiesvogel und – nicht zu vergessen – die Abordnungen von Jugendlichen, die es mit ihren Produktionen zwar bis in die engere Auswahl geschafft haben, aber dann nicht zu den acht Gruppen gehören, die letztendlich zum ttj eingeladen worden sind.

Und alle kommen sie zusammen im Garten der Berliner Festspiele vor und nach den Aufführungen auf ein  Glas der legendären Gratis-Fassbrause, tauschen sich über das gerade eben Gesehene aus, feiern und flirten manchmal auch miteinander. Besonders bei gutem Wetter ein wunderbarer Ort voll von Theatergesprächen, Lachen und Lagerfeuerromantik.

Soweit das Herz des Theatermenschen.

Das Herz des Pädagogen bubbert jedoch bei dem Gedanken an das ttj eher verhalten. Denn stärker als bei anderen Theaterfestivals, wie z. B. der Theaterwoche Korbach oder dem Schultheater der Länder, spielt beim ttj der menschliche Faktor eine nicht unbeträchtliche Rolle. Was ich damit meine, ist rasch erklärt: die Qualität der eingeladenen Gruppen ist hoch, sehr hoch sogar, und das Bewusstsein, ‚ganz oben‘ zu stehen, ist bei Vielen nicht minder groß entwickelt. Da bleibt es nicht aus, dass es zuweilen zu kleineren oder größeren Entgleisungen kommt, durch die sich das an sich wunderbar konzipierte Festival auch schon einmal zu einem Ort der großen Auftritte, der Konkurrenz unter den Gruppen (und nicht zuletzt auch den Spielleitungen) wandelt.

Freilich, alles menschlich und ganz sicher nicht von den ttj-Machern gewollt. Und doch: die ttj-eigene Mischung von Jugendlichen aus Jugendclubs, der freien Theaterszene und Schulen kann auch Probleme bergen, besonders dann, wenn die Jugendlichen der eigenen Schultheatergruppe noch jünger sind und vielleicht in viel mehr Selbstzweifeln und Findungsprozessen stecken als Jugendliche, die schon älter sind, in Jugendclubs spielen und sich vielleicht mit dem Gedanken tragen, selbst Schauspieler werden zu wollen. Gerade für solche jüngeren Jugendlichen, für die Bestätigung von außen wichtig ist und bei denen harte Kritik auch traumatisierend wirken kann, ist die Öffentlichkeit, die das ttj bietet, sehr groß – zu groß vielleicht. Wir haben auf jeden Fall unsere Jugendlichen, die damals so zwischen 16 und 19 waren, sehr intensiv auf das ttj 2013, zu dem wir erstmalig eingeladen worden waren, vorbereitet. Und obwohl sich unsere Befürchtungen in unserem Falle nicht nur 2013, sondern auch im Folgejahr 2014, als wir ein zweites Mal mit dabei sein durften, als grundlos erwiesen, hatten wir hinreichend Gelegenheit, bei anderen Gruppen zu beobachten, was eine zu große Öffentlichkeit anrichten kann, was es bedeutet, auch z. T. heftige Kritik einstecken und verarbeiten zu müssen; Kritik, die übrigens weniger von den jugendlichen Zuschauer*innen (die eigentlich immer sehr begeistert auf die dargebotenen Stücke der anderen Festival-Teilnehmer*innen reagierten) kam.  Es war vielmehr die jeden Tag neu erscheinende Festival-Zeitschrift, die oft sehr ungebremst der Lust am Verriss frönte und mit ihren Kritiken nolens volens zum Teil recht gravierende Verletzungen bei den Jugendlichen (und z. T. auch ihren Spielleitungen) hinterließ.

Dass sich auch manche Spielleitungen durch lautstark und gravierend vorgetragene Kritik an den  Produktionen anderer Gruppen hervortaten, sei hier nur am Rande erwähnt, macht aber deutlich, wie groß die Versuchung ist, sich in der oben beschriebenen Öffentlichkeit in Szene zu setzen.

Und nun?

Wenn eine Gruppe für sich in Betracht zieht, eine Bewerbung für das ttj abzuschicken, so liegt sicherlich ein großes Stück Verantwortung bei der jeweiligen Spielleitung. Sie muss einschätzen können, ob die eigene Gruppe – und hier auch jedes einzelne Mitglied – den Anforderungen gewachsen ist, die das ttj und die mit ihm einhergehende Öffentlichkeit an sie richten. Dabei reicht es sicher nicht aus, den Jugendlichen im Vorfeld der Teilnahme am ttj  anzuraten, das sprichwörtliche „dicke Fell“ einzupacken. Vielmehr muss die Spielleitung am besten schon vor der Bewerbung die Jugendlichen darüber aufklären, was sie in Berlin erwarten könnte: ein Festival der Superlative, ein Festival, das unvergessliche Eindrücke mit sich bringt und eine sehr große Anerkennung für die von der gesamten Theatergruppe geleistete Arbeit ist; aber eben auch ein Festival, dessen Öffentlichkeit so groß ist, dass man bereit sein muss, sich ihr zu stellen, auch wenn es deutlich fühlbaren Gegenwind gibt. 

Sollte ich mit meinem Erfahrungsbericht dazu beitragen können, dass sich jugendliche Spieler*innen ‚sehenden Auges‘ für eine Bewerbung beim ttj entscheiden, würde mich das sehr freuen, besonders, wenn es dann wirklich heißt: „Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!“

Axel Mertens war mit seiner Gruppe pocoÙmania (www.pocomania.de) 2010 mit „weite welt sucks“ und 2016 mit „fa[u]st“ in der engeren Auswahl und wurde 2013 und 2014 mit den Produktionen „Lochland“ und „Als wär’s ein Stück von mir“ zum Theatertreffen der Jugend nach Berlin eingeladen.